Benedikt von Nursia: Vermittler der Grundlagen eines spirituellen Lebens
von Sr. Michaela Puzicha OSB
Am 2. November 2017 verlieh die Theologische Fakultät der Universität Luzern Sr. Michaela Puzicha die theologische Ehrendoktorwürde in Anerkennung ihrer Erforschung und Vermittlung der monastischen Tradition. Aus diesem Anlass sprach die Benediktinerin von Varensell in der Großen Aula der Universität über den heiligen Benedikt als geistlichen Lehrmeister. EuA veröffentlicht den Text, der die Erfahrung und Weisung der Benediktusregel bündelt und aktuell erschließt. Das Video des Festvortrags ist zugänglich unter: https://tube.switch.ch/videos/010c0643.
Sehr geehrter Herr Dekan Vorhalt, lieber Herr Professor Loretan,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Mitschwestern, liebe Mitbrüder,
Die Würdigung am heutigen Tag gilt eigentlich dem, der auch das Thema dieses Nachmittags sein wird: Benedikt von Nursia und seiner Mönchsregel, die durch die Jahrhunderte eine ungeahnte Wirkungsgeschichte entfaltet und die Wurzeln und Herkunft Europas entscheidend geprägt hat.
Hier in Luzern stehen wir auf uraltem benediktinischem Boden mit der karolingischen Gründung des Benediktinerklosters St. Leodegar um 710. Überhaupt zeigt sich die Schweiz als ganz ursprüngliche monastisch-benediktinische Landschaft mit ihren lebendigen und auch historischen Klöstern, die seit vielen Jahrhunderten das spirituelle, geistige, wissenschaftliche, pädagogische und auch ökonomische Leben geprägt und weit über die Landesgrenzen hinaus gewirkt haben.
Die geistliche Grundlage dafür bildet die Regel Benedikts aus der Mitte des 6. Jahrhunderts, die Mönchsregel vom Montecassino, die sehr früh den Weg nach Norden gefunden hat: eine Regel von sprachlicher Präzision, theologischer Seriosität und menschlicher Souveränität; eine Regel, nach der auch heute ohne textliche Veränderungen Mönche und Nonnen leben; eine Regel, die dennoch keine religiöse Elite hervorbringen und ansprechen will, sondern „Eine Anleitung zu christlichem Leben“ ist, wie der verstorbene Abt Georg Holzherr von Einsiedeln im Untertitel seines Regelkommentars sagt.
Diese Regel bietet auch heute vielen Menschen Orientierung und Begleitung in Familie und Beruf Zugleich ist sie Zeugnis einer noch ungeteilten Christenheit und nicht nur vorkonfessionell, sondern überkonfessionell.
Ich möchte in einem Dreischritt etwas vom Reichtum dieser „Anleitung zu christlichem Leben“ vorstellen.
I. DIE BENEDIKTUSREGEL ALS CHRISTLICHER GRUNDTEXT
Die Regel Benedikts ist eng verwoben mit den Kernpunkten christlicher Orientierung und Identität. Darin gründet ihre Bedeutung und ihre Gültigkeit.
1. Bibelgestützt
Die Ur-Regel aller Gläubigen ist die Heilige Schrift. Sie ist wichtigste Quelle und vorrangiger Wurzelgrund auch der Benediktusregel, die durch ihre völlige Vertrautheit mit dem Wort der Schrift überzeugt. Benedikt verweist auf „jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes“ (RB 73,3). Bereits der Prolog formuliert als Grundsatz: leben per ducatum evangelii – „unter der Führung des Evangeliums“ (vgl. RB Prol. 21).
Die Verankerung Benedikts im biblischen Denken zeigt sich in der Übernahme biblischer Zitate, Begriffe und Themen. In allen Kapiteln offenbart sich ein Geflecht aus biblischen Anklängen, Erinnerungen und Anspielungen, das die Regel als „biblisches“ Buch ausweist und eindrucksvoll die Priorität der Heiligen Schrift bezeugt. Die Übergänge zwischen „Bibelsprache“ und „Regelsprache“ sind fließend.
Die Präsenz des Bibeltextes bestätigt zugleich den Anspruch, den das Wort Gottes an jeden Getauften stellt. Die Intensivierung liegt im Wort Christi, der am Schluss der Bergpredigt auf das Hören und Tun seiner Botschaft verweist: „Schließlich sagt der Herr im Evangelium: Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels gebaut hat.“ Benedikt fügt diesem Zitat den Zusatz an: „Nach diesen Worten erwartet der Herr, dass wir jeden Tag auf seine göttlichen Mahnungen mit unserem Tun antworten“ (RB Prol. 33; vgl. Mt 7, 24f).
Daraus ergibt sich im benediktinischen Lebensentwurf ein Gottes- und Menschenbild, das sich ausschließlich orientiert an der Zusage der Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit des biblischen Gottes – „weil Er gut ist“, wie Benedikt vermerkt (RB 7,30).
Diese Gotteserfahrung lässt er zurückhaltend und unaufdringlich erkennen; sie prägt seine Sicht auf jeden einzelnen Menschen tief. Das Leben in der Gemeinschaft wird bestimmt durch gegenseitige Ehrfurcht und Ehrerbietung; sie schaffen eine Atmosphäre der Zuwendung und Akzeptanz. Mit seiner Aufforderung „alle Menschen ehren“ (RB 4,8) bezieht Benedikt die gesamte Lebenswelt der Mönche wie auch alle, die zum Kloster kommen, in diesen Respekt ein.
2. Tauforientiert
Grunddatum christlicher Existenz ist die Taufe. Daran hält die Regel fest, sodass wir eine unmittelbare Orientierung Benedikts an der Taufe erkennen können. Textkritisch zeigt sich das am Prolog; Benedikt hat hier eine alte vorbenediktinische Taufunterweisung übernommen, die fest in biblischen und frühkirchlichen Weisungen verankert ist. Ihren letzten Teil mit der ethischen Unterweisung übernimmt Benedikt und damit die Inhalte der frühen christlichen Katechesen. So weist er für das alltägliche Leben und das konkrete Miteinander in der Gemeinschaft eindringlich auf die Einlösung der Taufverpflichtung hin. Auch für die Mönchsgemeinde bleiben die Weisungen aus der Heiligen Schrift und der Ethik der Frühen Kirche gültig und bindend.
Benedikt übernimmt ihren Maßstab für die Grundhaltungen, die das monastische Leben kennzeichnen. Dieser Verbindlichkeit widmet er ein ganzes Kapitel (RB 4), das eine katechumenale oder postbaptismale breite Sammlung biblischer und gemeindeethischer Sätze aufgreift, die eine kurzgefasste Taufkatechese bilden. Sie beantwortet die Frage, wie der Christ zu leben hat und stärkt ihn für konkrete Situationen durch entsprechende Sentenzen bzw. biblische Testimonien.
3. Christuszentriert
Die Spiritualität Benedikts ist personal und bezeugt eine Christusbeziehung, die in der Heiligen Schrift verwurzelt und im Glauben des Frühen Mönchtums fest verankert ist. Unauffällig und unaufdringlich lässt er einen offenen Zugang zu einer Christuspräsenz erkennen; von ihr spricht er mit großer Zurückhaltung, doch sie prägt seine Regel und macht sie zu einem Bekenntnis für den gegenwärtigen, verherrlichten und wiederkommenden Herrn. Die Perspektive Benedikts ist auf eine Wirklichkeit gerichtet, die den Alltag durchzieht: lm Bruder und im Gast erkennt er Christus.
Wenn die Überlieferung asketisches Leben als vivere Christo – „für Christus leben“ (Paulinus von Nola., Carm. 10,284; 31.499) oder monastische Existenz als Christo vacantes – „Freisein für Christus“ (Caesarius, RV 40,2) bestimmt, kommt damit eine ursprüngliche Intention zum Ausdruck, die für Benedikt zentral ist. Er greift auf die Erfahrung des Ambrosius zurück: omnia Christus est nobis – „alles ist Christus für uns“. (Ambrosius, De virginit. 16,99: „Christus ist für uns Alles.“)
Dieses christologische Vorzeichen ist der Brennpunkt der Regel; dabei geht es ihr nicht um dogmatische Ausführungen, sondern um gelebte Beziehung. Die Regel übernimmt die altkirchliche Grundentscheidung, dass der „Herr“ und „Gott“, der Deus und Dominus, Christus ist.
Das Selbstverständnis Benedikts spiegelt sich in den beiden programmatischen Sätzen, die von der Beziehung zu Christus sprechen: „Der Liebe Christi nichts vorziehen“ und „Christus … überhaupt nichts vorziehen“ (RB 4,21; 72,11.). Es sind Schlüssel- und Deutesätze; hier berühren wir die Mitte der Spiritualität Benedikts.
Wenn man von einer Christuserfahrung Benedikts sprechen kann, die er seinen Mönchen mitteilt, zeigt sie sich eindeutig in seinem Zeugnis vom Christus praesens. Das geschieht nicht nur in der göttlichen Zusage: Ecce adsum – „seht, ich bin da“ (RB Prol 17), sondern ist eine Realität, die sich im Alltag zeigt. Christus bildet nicht nur in den letzten beiden Versen der Regel (RB 73,8-9) den eigentlichen Schlussakkord als der Christus adiuvans und protegens. Benedikt glaubt an den helfenden und schützenden Christus, der das ganze Leben des Mönches unter die Zusicherung seiner Gegenwart stellt.
So entsteht eine mit dem alltäglichen Mönchsleben eng verflochtene „Christopraxie“, eine „existenzielle“ Christologie. Sie bewährt sich in der Praxis des klösterlichen Alltags und in der gelebten Beziehung zu Christus.
II. ALLTAGSTAUGLICHKEIT DER BENEDIKTUSREGEL
1. Gemeinschaftsbezogen
Benedikt schreibt seine Regel für Menschen, die gemeinsam leben – nicht, weil es praktischer oder funktionaler ist (auch wenn es das ist). Die Bezeichnung „Koinobiten“ für diese Lebensform ist Programm und Inhalt (RB 1 ,2). Mit dem Wort übernimmt er das Ideal der Urgemeinde in Jerusalem, die koinonia, als bewährtes Modell des gemeinsamen Lebens: „Sie hielten fest an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten.“ Er versteht sie als Gebets- und Eucharistiegemeinschaft, als Glaubens- und Gütergemeinschaft, Erzähl- und Bekehrungsgemeinschaft und als Gemeinschaft in Einheit und gegenseitiger Achtung und setzt damit einen starken Akzent (vgl. Apg 2,42-44; 4,32-35).
Die Gemeinschaft Benedikts ist einem Mehrgenerationenhaus vergleichbar: Es gibt eine Geschwistergruppe, eine Väter- bzw. Müttergeneration und eine Großväter- oder Großmüttergeneration, vielleicht noch ältere oder deutlich jüngere: unterschiedliche Menschen vor allem, Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Schwache und Robuste, unterschiedlich nach Herkunft, Ausbildung und Bildung, nach Belastbarkeit, mit verschiedenen Begabungen, Fähigkeiten und Charismen, aber auch mit gegensätzlichen Charakteren, anderen Lebensstrategien und entgegengesetzten Reaktionsmustern.
Dabei geht der Einzelne nicht in der Gemeinschaft unter. Benedikt sieht nicht eine „Gruppe“, schon gar nicht eine „Masse“ oder „Summe“, sondern würdigt jeden in seiner Einmaligkeit und Verschiedenheit durch Wertschätzung. Jeder bleibt erkennbar als der Mensch, der er auch mit seiner Unvollkommenheit ist. Benedikt nimmt mit Souveränität, d.h. herrschafts- und angstfrei, die Individualität der Mönche wahr. Er sieht diese positiv als Vielfalt an Lebenserfahrung und Lebensgeschichten. Nur durch die Achtung eines jeden und die Förderung seiner geistlichen und menschlichen Verantwortung entsteht eine gemeinsame Identität, bei der die Verschiedenheit ein einheitliches Ganzes ergibt.
aequalitas
Vor allem das Prinzip der aequalitas, der Gleichheit unter den Brüdern, ist Benedikts bevorzugtes Anliegen. Allerdings heißt Gleichheit nicht Gleichmacherei. Benedikt weiß, dass Menschen verschieden sind, dass es unterschiedliche Geschwindigkeiten und Ungleichzeitigkeit gibt. Er ist interessiert an der Gleichwertigkeit und dem Ethos der Gleichberechtigung. Die Unterschiede zwischen den Mönchen sind für ihn kein Grund, zu werten oder zu vergleichen, vielmehr sieht er unvoreingenommen und unaufgeregt die vielfarbige Realität seiner Brüder, mit der das gemeinsame Leben gestaltet werden kann, wenn sie ihre Möglichkeiten einbringen.
Sicherlich meint das keine Beliebigkeit; der Schutz der Gemeinschaft vor unsolidarischem Verhalten und Grenzüberschreitungen ist gewährleistet. Benedikt ist weder naiv noch blauäugig. Mit einem klaren Blick auf die Fehler und Schwächen setzt er Grenzen, um dem Heil aller zu dienen. Das gilt für die berechtigten eigenen Interessen, aber ebenso für ihren Ausgleich mit den monastischen Anliegen. Die lebendige Spannung, die sich daraus ergibt, bindet Benedikt an die persönliche Verantwortung und an das Engagement für die Gemeinschaft. Dieses wechselseitige Verhältnis behält er stets im Blick.
Friede
Was die Brüder eint, ist der Weg der Berufung, der Gottsuche und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens im Geist des Evangeliums. Sie haben das nicht einfach, sondern es ist immer wieder neu zu justieren, um den Frieden zu wahren oder wiederherzustellen, die Glaubwürdigkeit nicht zu beschädigen, die gegenseitige Hilfe zu gestalten.
„Suche den Frieden und jage ihm nach“ (RB Prol 17: Ps 34, 15), so lautet eine Eingangssequenz der Regel. Voraussetzung dafür ist nicht Uniformität und Einstimmigkeit, sondern das Wahrnehmen von Spannungen und das deutliche Benennen von Konfliktfeldern. Sie anzusprechen, ist ein erster Schritt dazu, Probleme einmütig zu lösen, ohne Spaltungen, Parteiungen und Trennungen hervorzurufen. Die Bewahrung des Friedens in der Gemeinschaft als stetige Rückkehr in den Frieden (vgl. RB 4,73) ist ein Lernprozess, der immer der pacis caritatisque custodia verpflichtet ist (RB 65,11). Er kann nur gelingen in der gemeinsamen Orientierung am Evangelium: nicht: „selig, die Frieden stiften“, sondern „die Frieden schließen“.
Dialog
Benedikt ist überzeugt: Gemeinschaftliches Leben erfordert vielfaltige und unterschiedliche Gesprächsprozesse. Der richtige Umgang mit verschiedenartigen Situationen des Sprechens miteinander – nicht übereinander – ist Bestandteil benediktinischer Realität. Die Regel sieht dafür „Lernprogramme“ vor, um eine Kultur des Dialogs im Geist der Brüderlichkeit und angstfrei einzuüben. So kann Verstehen untereinander wachsen, können Krisen bewältigt und Entscheidungen getroffen werden.
Kommunikation in einer Gemeinschaft ist nie einfach. Benedikt verweist jedoch auf die Notwendigkeit, Gespräche einzuüben und zu führen. Der Dialog bleibt ein Lernprozess, den er an vielen Stellen voraussetzt oder anregt. Im Bemühen um das richtige und mutige Reden miteinander leitet er mit Erwartungen für einen intensiv gestalteten Gesprächsverlauf dazu an. Er lädt ein, Überlegungen auszutauschen, Vorkommnisse zu besprechen, einvernehmlich Lösungen zu suchen und im Gespräch zu bleiben.
Benedikt verschweigt nicht die Herausforderungen, die im Einüben einer Gesprächskultur im Hören aufeinander und in gegenseitiger Wertschätzung liegen. Er unterschlägt auch sensible und heikle Situationen nicht; wenn gemeinsames Leben gelingen soll, muss man damit beginnen, unterschiedliche Meinungen auszusprechen. Sein Ziel ist nicht Einstimmigkeit, sondern die Bereitschaft, bei verschiedenen Ansichten das Ganze im Blick zu haben und – wo nötig – Kompromisse zu finden.
Achtung
lm Umgang miteinander tritt Benedikt daher für eine Kultur der Achtsamkeit ein, „wo immer die Brüder einander begegnen! (RB 63, 15). Lebenskultur und Lebensstil gehören zum Auftrag des Zusammenlebens im Geist des Evangeliums. Das erfordert die Gestaltung des äußeren und inneren klösterlichen Raumes. Dieser sorgsame Umgang gilt für alle Bereiche des Klosters und alle Situationen des Alltags.
Das Zusammenleben so unterschiedlicher Menschen erfordert eine hohe Sensibilität, vor allem in Zeiten des demographischen Wandels. Benedikt gestaltet das gemeinsame Leben der Generationen als einen Raum gegenseitiger Aufmerksamkeit, ohne Lasten einseitig zu verteilen. Er will einen Lebensstil, der die helfende Achtsamkeit ebenso pflegt wie das Gespräch über kontroverse Themen und der bereit ist, Konsequenzen aus einer veränderten Situation zu ziehen. So kann eine Gemeinschaft mit Bedacht Zukunftsperspektiven entdecken und sich darauf einigen.
Ehrfurcht vor Menschen und Dingen ist für die RB eine selbstverständliche Grundhaltung. Aus seinem biblischen Verständnis der Schöpfung leitet Benedikt den Auftrag und die Verantwortung ab, alles zu behandeln „wie heilige Altargeräte“ (RB 31 ,9), eine singuläre Bestimmung im monastischen Kontext. lm heutigen Bewusstsein nimmt diese Sicht als nachhaltige Bewahrung der Schöpfung einen hohen Rang ein; sie hat im benediktinischen Lebensentwurf einen umfassenden Horizont, der alle Bereiche mit einbezieht.
Die Eignung zu einem Leben in Gemeinschaft erweist sich nach Benedikt auch daran, dass jemand, der Dienste, Aufgaben, Aufträge und Arbeiten übernimmt, jede Nachlässigkeit vermeidet; er spricht von Brüdern, „auf die man sich verlassen kann“ (RB 32,1). Es geht nicht zuerst um Funktionen, sondern um eine geistliche Bereitschaft zu Achtsamkeit und Sorgfalt, die für alle Aufgaben im Kloster, auch die einfachsten gelten. Sie bilden das soziale und spirituelle Fundament des gemeinsamen Lebens: „Die Brüder sollen sich gegenseitig dienen“ (RB 35,1).
2. Situationsorientiert
Man könnte meinen, eine Mönchsregel sei ein starrer Text und ein ehernes Gesetz. Diesem Eindruck stellt Benedikt sein Konzept entgegen: Er nimmt sich wandelnde Gegebenheiten von Orts- und Zeitverhältnissen wahr und reagiert flexibel darauf. Benedikts konstruktiver Umgang mit der Gegenwart, mit „den Zeichen der Zeit“ ist gerade heute eine Herausforderung für jede Gemeinschaft.
Was muss bleiben und darf nicht aufgegeben werden? Welche Anpassungen sind notwendig? Benedikt bietet Kriterien zur Unterscheidung in veränderten Situationen und ermutigt zum Handeln. Er reagiert auf veränderte asketische Vorstellungen, auf die Belastung durch Arbeit, auf klimatische, jahreszeitliche und regionale Notwendigkeiten, indem er von den Idealen der Wüstenväter abweicht oder sie teilweise schwerwiegend anpasst. Er berücksichtigt ebenso die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten seiner Mönche mit einem hohen Maß an discretio als unterscheidender Klugheit (RB 64,18f.; vgl. RB 70,6) und mit humanitas als weiser Menschlichkeit (RB 53,9). Diese Konstanten erweisen die Regel als einen Text von geistlichem Format und umsichtiger Menschenführung.
Der Umgang mit der Zeit ist auch zur Zeit Benedikts eine der entscheidenden Bedingungen für die Gestaltung des gemeinsamen Lebens. Das gilt für die Gemeinschaft ebenso wie für den Einzelnen. Die Frage nach der Strukturierung der Zeit – „zu den dafür vorgesehenen Stunden“ (RB 31,18) – beschäftigt Benedikt und ruft nach Lösungen. Dabei geht es nicht um Zeitmanagement, sondern um die Qualität der Zeit-Inhalte. Die RB weiß um die Vielschichtigkeit dieses Problems und sucht flexibel und zugleich klar darauf zu antworten.
3. Offene Grenzen – weltoffene Pastoral
Als weiteres Qualitätsmerkmal der RB ist ihre einladende Pastoral und weltoffene Gastfreundschaft zu nennen. Nicht erst heute, sondern schon zur Zeit Benedikts sind die Menschen mobil, ohne dafür auf das Stichwort „Völkerwanderung“ zurückgreifen zu müssen. Benedikt ist offen für „alle Fremden, die zum Kloster kommen“ (RB 53,1), durchaus mit der Mehrdeutigkeit, die dem lateinischen Wort hospes eignet. (hospes: Der Fremde, Fremdling, der sich eine Zeitlang irgendwo aufhält als Gast, und insofern er mit dem Wirt in Gastfreundschaft steht = der Gastfreund; übertragen: ein Fremdling = unbekannt, unerfahren; hostis: I) der Fremde, Fremdling, Ausländer; II) besonders ein kriegführender Fremder = der Feind im Felde und Kriege, sowie der offene Feind des Vaterlandes. Vgl. auch Eph 2,19.) Die Klientel auf dem Montecassino ist von verblüffender Vielfalt, ein Querschnitt der Gesellschaft: Verwandte und Freunde, Mönche aus anderen Klöstern, Kleriker und Häretiker, Bischöfe, Äbte und Pilger, Leute aus der Umgebung, Kunden und Fragensteller, Bettelarme, Reiche und Einflussreiche, Eintrittswillige und solche, die eine geistliche Heimat suchen – eben „Gäste, die dem Kloster nie fehlen“ (RB 53,16). Allen begegnet Benedikt mit Achtung und Ehrerbietung (vgl. RB 4,8; 53,3.6-7). Jeder einzelne und alle sind zu sehen als der „fremde Christus“ oder Christus im Fremden, von dem das Evangelium spricht (vgl. Mt 25,35): sie „sollen aufgenommen werden wie Christus … man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus“ (RB 53,2.7). Damit klärt er den Blick auf die Fremden gemäß der Identifikation Jesu mit den Geringsten: „Ich war fremd – und ihr habt mich aufgenommen“ (vgl. Mt 25,35).
Benedikt will eine offene Gastfreundschaft; er kennt keine personellen Einschränkungen, ist völlig unabhängig von praktischen Erwägungen des Nutzens, des Vorteils oder des Arbeitsaufwandes und ist ebenso frei von sozialen, politischen und religiösen Vorurteilen. lm Gegenteil: in den Allerärmsten wird „ganz besonders und bevorzugt Christus aufgenommen wird“ – in ipsis magis Christus suscipitur (RB 53,15; vgl. Mt 25,40). Benedikt weiß um das Durchsetzungsvermögen der Reichen und spricht vom terror divitum (ebd.). Aber auch sie schließt er nicht aus.
Das pastorale Angebot für die Gäste ist bemerkenswert: sie erhalten Anteil am Stundengebet, der Obere oder ein beauftragter Bruder sprechen mit ihnen auf Augenhöhe über die Heilige Schrift, sie nehmen die Mahlzeit mit dem Abt ein und können eine geistliche Heimat finden. Die Benediktusregel sieht eine Vielzahl von Möglichkeiten vor, Menschen, die zum Kloster kommen, in ihren Anliegen zu verstehen und auf ihrem Weg zu unterstützen: „… dann setze man sich zu ihm“ (RB 53,8). Die Gastfreundschaft ist nicht nur Dienst für Menschen, sondern der Gast ist zugleich Gabe an die Gemeinschaft.
Die Gastfreundschaft ist aber auch ganz praktisch. Die Gäste erleben eine Willkommenskultur: Sie werden gastfrei beherbergt (RB 53,19-20) und aufmerksam versorgt (RB 53,8). Es werden ihnen keine asketischen Einschränkungen aufgezwungen; ihnen zuliebe werden das Fasten und das Schweigen gebrochen – aber in Verantwortung für Grenzen und mit dem Blick für die Realität und für die Pflichten auch des Gastes (RB 53,9.10f).
III. DIE BENEDIKTUSREGEL ALS ZEUGNIS DES GLAUBENS
1. Der Horizont der Transzendenz
Die Benediktusregel steht im Horizont der Transzendenz. Als Kriterium für die Aufnahme in die klösterliche Gemeinschaft hält Benedikt fest: si revera Deum quaerit – „ob er in Wirklichkeit Gott – Christus – sucht, ob er wirklich nach Gott fragt“ (RB 58,7). Damit öffnet sich der Horizont über Innerweltliches hinaus. Viele Menschen suchen: nach dem Sinn ihres Lebens, nach einer Antwort auf das Leid dieser Welt, nach Geborgenheit und Verständnis, nach letzter Erfüllung ihrer Existenz, nach Wegen der Gewaltfreiheit und zum Frieden. Diesen Horizont hält Benedikt offen und bindet ihn an das Wort „Gott“.
Dieses Wissen um Transzendenz drückt sich am stärksten aus in dem Satz zum Stundengebet, für den es in der monastischen Literatur keine Parallele gibt: „Daher gilt: Überhaupt nichts darf dem opus Dei, dem Stundengebet vorgezogen werden“ (RB 43,3). Viele Stunden des Tages und der Nacht haben eine Widmung, die unabhängig von einer Nutzen-Kosten-Rechnung und an keinen Zweck gebunden ist und keinerlei Verwertbarkeit nachweisen muss. Das Psalmen-Gebet der Gemeinschaft weist regelmäßig auf den hin, von dem her sich die Mönche verstehen. Es eröffnet einen Horizont der Zweckfreiheit und Sinnhaftigkeit, der transparent ist auf den hin, der größer ist als die Menschen.
Gleich zweimal betont Benedikt den Kern: „um ihn zu preisen“ (RB 16,2.5). Der Lobpreis Gottes ist der Grundauftrag menschlicher Existenz, wie es Eph 1,12 festhält: „Wir sind bestimmt zum Lob seiner Herrlichkeit.“ Entscheidend für Benedikt ist: leben, um lHN zu preisen.
Schon im ersten Buch der Chronik heißt es bei der Aufzählung der Aufgaben für die Leviten: „Sie müssen jeden Morgen und Abend bereitstehen, um den Herrn zu loben und zu preisen“ (1 Chr 23,30). Der Lobpreis ist ein Grundthema der Heiligen Schrift; die Beraka, das Lob- und Segensgebet, hat nicht nur in der Liturgie, sondern auch im Alltag ihren Ort. Benedikt ermutigt zudem den Einzelnen zu Formen persönlichen Betens: „wenn einer still für sich beten will …“ (RB 52,4).
2. Leben aus dem Glauben
Diese transzendente Perspektive ist für die Benediktusregel nicht beschränkt auf den geistlichen Bereich. Es gibt nichts Säkulares, wenn wir „säkular“ als „das religiös Belanglose“ (Richard Schaeftler) verstehen. Vielmehr ist der gesamte Alltag religiös konnotiert. Eher ist zu sprechen vom „Profanen“. Das Wort kommt vom lateinischen pro fano – „vor dem heiligen Bereich, vor dem Tempel“. Damit ist alles in unserem Leben gemeint, was nicht unmittelbar „geistlich“, aber dem Heiligen zugeordnet ist. Das Profane ist daher immer transparent für das fanum, für das Göttliche. Wir verlassen nicht den geistlichen Raum, die unmittelbare Zuordnung zum „Haus Gottes“, wie Benedikt die Gemeinschaft der Mönche bezeichnet (RB 31,19; 53,22; 64,5).
Das Göttliche – Benedikt spricht von der divinitas – ist überall gegenwärtig, Gott ist für den Glauben immer präsent: ubique credimus divinam esse praesentiam (RB 19,1). Wir alle – nicht nur Mönche und Nonnen – leben grundsätzlich im „Göttlichen Bereich“ (Teilhard de Chardin); diesen untrennbaren und umfassenden Raum des lebendigen Christus müssen wir nicht herstellen.
Der Alltag der Brüder findet nicht in einer Parallelwelt zum Gottesdienst statt. Das Leben der Gemeinschaft – die Dienste, die Arbeit, die Reisen, der Umgang mit Verfehlungen, die Gastfreundschaft, die Aufnahme in die Gemeinschaft – wird vom Gebet begleitet. Es geht nicht darum, mit Riten, Formeln oder religiösen Phrasen feierliche Vollzüge zu gestalten, sondern dem Wissen um die Gegenwart Gottes immer und überall Ausdruck zu verleihen. „Überall ist Gott gegenwärtig“ (RB 19,1) – das hat nicht nur für das Stundengebet oder das persönliche Gebet seine Richtigkeit, sondern gilt mitten in der Banalität des alltäglichen Miteinanders.
Benedikt versucht, das seinen Mönchen zu vermitteln, und beendet das Kapitel über professionelle Arbeit, über Betriebe, Werkstätten und Arbeitsbereiche, über Einkaufen und Verkaufen, über Geld und Finanzen mit einem beispiellosen Schlussakkord, wenn er 1 Petr 4,11 zitiert: „damit in allem Gott verherrlicht werde“ – ut in omnibus glorificetur Deus (RB 57,9). Tatsächlich: „in allem“. Das griechische Wort für „Herrlichkeit Gottes“ ist doxa: der Lichtglanz, die Transparenz des Alltags auf Gott hin, dessen Glanz in omnibus – „in allem“ aufleuchtet. Was können wir zum Lichtglanz Gottes, zur doxa tou theou beitragen? Die Antwort kann nur lauten: nichts. Dieser Glanz ist unabhängig von uns reine Wirklichkeit. Doch wir können den Lichtglanz Gottes durchscheinen lassen, den Dienst an seiner doxa vollziehen. Nicht zufällig ist das letzte Wort gerade dieses Kapitels Deus – „Gott“. Alles menschliche Sprechen und Handeln ist zu verstehen als Dienst an der Herrlichkeit Gottes (Richard Schaeffler).
3. Eine Regel des Anfangs
Benedikt sieht monastisches Leben als Zeit des menschlichen Wachsens und geistlichen Reifens. „Nimm diese schmale Regel als Basisplan“ – inchoatio (RB 73,8) steht daher im letzten Kapitel der Regel. Sie setzt einen menschlichen und geistlichen Prozess voraus, der jedem Einzelnen angemessen ist. Er verläuft in einem Spannungsfeld von Verantwortung und Freiheit und entfaltet sich in die Weite des Herzens (vgl. RB Prol 49), in welcher der Mensch innerlich mit sich selbst und den Anliegen des Evangeliums übereinstimmt. Dieser Weg ist mit der Taufe bereits vorgegeben und will in einem Leben der Ausrichtung auf Christus verwirklicht werden.
Als Ziel des monastischen Lebens sieht Benedikt eine Vollendung, die nicht gleichbedeutend ist mit Perfektion. Er weiß um bleibende Anfechtung und Gefährdung, um Wunden und Fehler, die er immer wieder realistisch zur Sprache bringt. Er zeigt Wege, damit umzugehen, und ermutigt zu einem Leben der Annahme seiner selbst im Vertrauen auf den Beistand Christi. Er stellt den Mönch unter die Verheißung der Barmherzigkeit Gottes, die Veränderung und Gelassenheit ermöglicht.
Monastisches Leben gestaltet sich nach der Erfahrung Benedikts als lebenslanges Lernen und Einüben in einen Prozess, der Entfaltung und Reifung ermöglicht. Die Einsicht in die persönliche Situation und die Bereitschaft zur Entwicklung endet nicht mit dem Noviziat, sondern beginnt dann erst recht. Das ist nicht selbstverständlich, prägt aber nachhaltig die Einstellung Benedikts zur menschlichen Wirklichkeit. Weil er das Fortschreiten erfahren hat, kann er auch zur Ausdauer ermutigen; immer neu will er die Augen öffnen für Christus, zu dem der Mönch immer unterwegs ist: ire ad Deum – „auf dem Weg zum Herrn sein“ (RB 58,8; 71,2; Prol 2).
Benedikt beschließt sein geistliches Testament mit der Gewissheit, dass „Christus uns gemeinsam – nos pariter – zum ewigen Leben führt“ (RB 72, 12). Noch einmal macht er kraftvoll deutlich, dass Christus die Mitte seiner Regel ist. Auf die Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung antwortet Benedikt im letzten Wort seiner Regel mit der Verheißung, die niemanden ausnimmt oder ausschließt: pervenies – „wer immer du bist … du kommst an“ (RB 73,8f).
Michaela Puzicha
geb. 1945, Dr. theol., Dr. theol. h.c.; Benediktinerin der Abtei Varensell (Nordrhein-Westfalen); Studium der Theologie in Münster, 1977 Promotion; seit 2000 im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz Leiterin des Instituts für Benediktinische Studien in Salzburg, Kurs- und Vortragstätigkeit, Forschungsarbeit; Veröffentlichungen, u.a.: Kommentar zur Benediktusregel (2002; 2. Aufl. 2015); Benedikt von Nursia begegnen (2004); Quellen und Texte zur Benediktusregel (2007). Benedikt von Nursia begegnen (2. Aufl. 2008); Die Heilige Schrift in der Regel Benedikts (2009); Gregor der Große: Das zweite Buch der Dialoge – Leben und Wunder des ehrwürdigen Abtes Benedikt (2012); Der Regel als Lehrmeisterin folgen. Aufsätze und Vorträge zur Benediktusregel (2013); „… die gemeinsame Regel des Klosters“ (RB 7,55). Aufsätze und Vorträge zur Benediktusregel II (2017).