Europa und pax benedictina
von Sr. Michaela Puzicha OSB
Es liegt schon etliche Jahre zurück, dass ein Interview in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ vom 30. Januar 2003 mit Valery Giscard d’Estaing, dem damaligen Präsidenten des Europäischen Verfassungskonventes und ehemaligen französischen Staatspräsidenten für Schlagzeilen sorgte und eine europaweite Diskussion auslöste. Es ging um die Frage, ob ein Bezug auf Gott in eine künftige Europäische Verfassung aufgenommen werden sollte. Ihm persönlich erschien das nicht angebracht. Die Europäer hätten zwar ein spirituell religiöses Erbe, lebten aber in einem rein weltlichen, politischen System, in dem die Religion keine Rolle spiele.
Die Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage gilt dem Selbstverständnis Europas. Damit ist verwiesen auf die geistigen und spirituellen Grundlagen eines europäischen Großraumes mit einer über zweitausendjährigen Christentumsgeschichte. Die vielleicht bedeutsamste der geistlichen und zivilisatorischen Grundlagen dieses „christlichen Abendlandes“ entsteht im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Benedikt von Nursia, Abt auf dem Montecassino, schreibt um die Mitte des 6. Jh. eine schmale Mönchsregel, und er bindet in ihr das Erbe des frühchristlichen Mönchtums ebenso wie die spirituellen, politischen und sozialen Erfahrungen der Frühen Kirche auf der alleinigen Basis der Heiligen Schrift.
Damit kommt der Benediktusregel im Umfeld der europäischen Frage singuläre Bedeutung zu. Diese Regel hat eine unvergleichbare und bis heute nachhaltige Wirkungsgeschichte, die über Jahrhunderte nahezu identisch ist mit der europäischen abendländischen Kultur- und Zivilisationsgeschichte, mit ihrer Kirchen- und Politikgeschichte. Die Ausführungen zu dieser Thematik können dennoch keine gesellschaftlichen und politischen sein, da diese Mönchsregel vom Ausgang der Spätantike nicht eigentlich historisch oder nur als Quelle zu lesen ist. Vielmehr bildet sie bis heute den geistlichen Basistext der benediktinischen Abteien, Klöster und Gemeinschaften und hat damit gesellschaftliche und politische Bedeutung.
Die großen Themen unserer europäischen Gesellschaften und der europäischen Politik finden sich punktgenau in der Benediktusregel, und das – lassen Sie mich pro domo sprechen – wohl deswegen, weil sie im abendländischen Grundwasser, im kollektiven Gedächtnis Europas immer präsent gewesen sind. In unserem Zusammenhang liegt der Schwerpunkt auf dem Aspekt des Friedens.
I. Die Gemeinschaft Benedikts als Ort des Friedens
Die programmatische Bedeutung des Friedens ist eine der zentralen Perspektiven der Benediktusregel und seine Gestaltung bleibt Aufgabe und Herausforderung des gemeinsamen Lebens. Die Wichtigkeit dieser Thematik lässt sich nicht am Gebrauch des Wortes pax festmachen. In der Benediktusregel findet sich das Wort auffallend selten. An ganz wenigen Stellen nur verwendet Benedikt es: achtmal pax, davon dreimal Friedensgruß bzw. -kuss und einmal im Psalmzitat (RB Prol. 17). Also: nur viermal als relevanter Wortbestand, dreimal als Eigentext Benedikts (RB 4,73; 34,5; 65,11).
Und doch ist seine Regel ein Zeugnis, das den Frieden als Vision, nicht als Utopie, als Prozess, nicht als Zustand in die Mitte des gemeinsamen Lebens stellt. Er schreibt keine Abhandlung über den Frieden, siedelt ihn vielmehr unspektakulär im Alltag an. Die ganze Regel kann daher gelesen werden als ein Text der Friedenssicherung:
1. Dass Unfriede und seine Varianten erst gar nicht entstehen
2. Dass im Konfliktfall der Friede wieder hergestellt wird
Diese Feststellung wäre aber ein unzureichender Befund, wenn er nicht durch zahlreiche Hinweise ergänzt wird, die vielfältig das breite Spektrum Benedikts zeigen. Vielmehr zeigen die prägnanten und singulären Formulierungen an den entsprechenden Stellen, dass es um einen Lebensstil geht, der ganz von dem Bemühen um Frieden bestimmt ist.
II. Das Haus
In vielen offiziellen Dokumenten wird davon gesprochen, die europäischen Nationalstaaten unter einem gemeinsamen Dach, in dem einen europäischen Haus zu einen. Dieser Gedanke führt auf eine Metapher zurück, die in der profanen und christlichen Spätantike, d. h. z. Zt. Benedikts, zu den wichtigsten Referenzbegriffen des politischen, kirchlichen, gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens zählt. Das Haus (domus) ist für die Antike und die Spätantike eine wichtige „Kurzformel“ für den Lebensraum des Menschen. Es umfasst die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten in diesem Haus, das Verhältnis der Menschen untereinander, es konstituiert Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit und Sinnstiftung. Die Vorstellung vom Haus verbindet sich gleichzeitig mit einem langwierigen Prozess, in dem es ein sich ständig verschiebendes Miteinander unterschiedlichster Menschen und Situationen in ein und demselben Haus gibt, weswegen Augustinus von der domus magna, dem großen Haus spricht. Für Augustinus ist es ein „großes Haus“ – groß im Sinn der Komplexität und Vielfalt (vgl. 2 Tim 2,20).
Mit dem Stichwort Haus legt auch die Benediktusregel einen ihrer wesentlichen Begriffe vor: Haus als Gebäude; als reales Sozialgebilde und als Potential von Bedeutungen und ebenfalls ein großes Haus, was die Komplexität und Diversität seiner Bewohner betrifft. Die benediktinische Gemeinschaft ist zudem ein Mehrgenerationenhaus: „Die Älteren ehren, die Jüngeren lieben“ (RB 4,70f.). Das Haus ist in der Benediktusregel nicht einfach ein rein funktionaler und architektonischer Begriff (vgl. RB 66,6). Die Mönche Benedikts „hausen“ nicht, sondern wohnen „intra monasterium“, im Haus.
Es ist bedeutsam, wenn Benedikt, und nur er, von der Gemeinschaft als vom Haus Gottes (domus Dei) spricht als ihrem eigentlichen Identitätsbegriff (RB 31,19; 53,18): Damit bestimmt er die monastische Gemeinschaft als ‚Haus‘, das dem Herrn gehört und für das dieser sorgt, und ebenso als das ‚Haus‘, das für Gott da ist. Der eigentliche Hausherr ist Christus. Er nimmt damit einen Terminus auf, der in der biblischen und frühchristlichen Tradition wie auch der monastischen Tradition einen festen Platz hat (vgl. 1 Tim 3,15; 1 Petr 2,5; 4,17; 1 Kor 3,17; Hebr 3,6). Im Hintergrund wird die Formulierung der Apostelgeschichte von der ‚sich hausweise konstituierenden Kirche‘ (ecclesia domestica) erkennbar (vgl. Apg 2,46; 5,42; 8,3). Haus bedeutet Bekehrungsgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft, Gebets- und Gütergemeinschaft, ein Ort, an dem der Friede herrschen soll, der geprägt ist durch ein ethisches Milieu im Geist der Einmütigkeit und im Zusammenhalt der ‚Hausbewohner‘ (vgl. Apg 4,32) und der Solidarität seiner Bewohner im Geist des Ideals: „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,35).
III. Realität und Konflikte
Ausdrücklich definiert Benedikt die Gemeinschaft nicht als einen Ort, wo dieses Ideal bereits verwirklicht wäre; wohl aber hält er diese Option immer offen. Es geht um die Gestaltung eines Raumes, der gekennzeichnet ist von der Realität menschlichen Zusammenlebens, nicht um die Utopie einer heilen Welt. Die Wahrnehmung dieser Realität ist die Grundbedingung für Frieden. Damit wird deutlich, dass Friede kein Begriff des Zustandes, sondern des Prozesses ist, eines Prozesses der ständigen Herstellung der Harmonie und des Ausgleichs unter Ungleichen, aber Gleichwertigen. Der Friede muss immer erst erreicht werden, da alle Menschen verschieden sind, und erst indem „die Starken finden, wonach sie verlangen, und die Schwachen nicht davonlaufen“ (RB 64,19), entsteht jener Friede, der jedem den ihm angemessenen Platz im Gefüge des Ganzen zukommen lässt. Das ist die pax, die Augustinus bezeichnet als die „Ruhe des Geordnetseins aller Dinge“ (De civ. 19,13).
Die Wahrnehmung der Realität berücksichtigt die Unterschiedlichkeit der einzelnen, vor allem die Komplexität und Vielfalt, die zugleich die selbstverständliche Ungleichheit und Verschiedenheit der Mönche signalisieren, die vielen Lebensstrategien und Reaktionsmuster, die individuellen Interessen und charakterlichen Diversitäten. Sie bezieht sich auf die unterschiedliche Vorstellungskraft und die jeweils anderen Zugänge zur Wirklichkeit, im Umgang des Einzelnen mit Herausforderungen und Anforderungen. Die Mönche sind mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs.
Diese Tatsächlichkeit menschlicher Existenz bietet jedoch im gemeinsamen Leben Konfliktstoff und kann Missverständnisse, Empfindlichkeiten und Auseinandersetzungen programmieren. Aufgrund der verschiedensten Menschen ist die Gemeinschaft immer auch ein Ort der Spannungen und Spaltungen, der Empörung und Verärgerung, der problematischen Situationen. Die Wahrnehmung dieser Realität ist in der Benediktusregel ein wichtiger und notwendiger Schritt auf dem Weg zum Frieden. Benedikt setzt sich vorbehaltlos mit den vielen Formen des Unfriedens in der Gemeinschaft und im Verhalten des einzelnen auseinander und lässt kein Wort des lateinischen Konfliktvokabulars aus (vgl. RB 2,25; 2,28; 4,40; 4,66-8; 64,16; 65,7; 65,18; 65,22).
Es gibt Konkurrenzansprüche und Profilierungssucht, Zwietracht, Streit, Neid und Eifersucht. An vielen Stellen warnt er zudem vor Willkür, Verunsicherung, vor Machtmissbrauch und Übergriffen, Terror und Tyrannis, Kompetenzüberschreitung, Herablassung und Missachtung, und scheut sich nicht von scandala zu sprechen. Benedikt mahnt daher eindringlich zur Abwehr solcher Haltungen und fordert Sanktionen um des Friedens, aber nicht um „des lieben Friedens“ willen. Es geht ihm nie darum, Konflikte zu verdrängen, sondern zu benennen und zu Konfliktlösungen zu finden. Das Bestreben ist allerdings auch, Konflikte erst gar nicht aufkommen zu lassen, sie rechtzeitig zu erkennen und so weit wie möglich von vornherein zu begrenzen. Sind sie eskaliert, entwickeln sie eine Eigendynamik, der nur mühsam beizukommen ist.
Solche Begrenzung geschieht bei ihm immer durch die verbale Intervention, das von ihm absolut favorisierte Instrumentarium. Mit der Einbeziehung aller Brüder in die Konfliktsituation schafft er Transparenz und ermöglicht durch die Kommunikation die Möglichkeit zum Umgang mit Spannungen, Meinungsverschiedenheiten und Belastungen.
IV. Friede
In einem vorbereitenden Papier des damaligen europäischen Verfassungskonvents heißt es: Europa als Friedensprojekt ist eine der wichtigsten Zielvorgaben des Zusammenschlusses. Das friedliche Zusammenleben der Völker bleibt die große Herausforderung unserer Zeit. Mit dem Mitteleuropäischen Katholikentag 2003/2004, der ein Jahr lang an verschiedenen Orten stattfand, wollte die Kirche den Impuls geben: zur Versöhnung der durch die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergerissenen Völker.
Umso wichtiger wird das Schlüsselwort, das über benediktinischen Klosterpforten steht und immer noch den Briefkopf vieler Mönche und Nonnen ziert: Pax – Friede. Die pax benedictina ist eine politische Angelegenheit, allerdings nicht im partei- oder staatspolitischem Sinn: Dieser Friede ist gelebte praxisnahe Friedensarbeit Mit seiner Regel hat er hingegen keine Abhandlung über den Frieden geschrieben, sondern ihn vielmehr mitten im Alltag platziert, die kleinen Schritte im alltäglichen Leben, die helfen, Unheil, Unrecht und Böses zu überwinden. Suche den Frieden und jage ihm nach!, zitiert er schon im Prolog seiner Regel den Psalmisten (Ps 34,15). Die Wahrung des Friedens ist nicht nur die Abwesenheit von Streit und Krieg, sondern ein Lebensstil, eine innere Haltung, die benediktinisches Leben formt und eine menschlich reife Kultur des gemeinsamen Lebens ermöglicht. Benedikt spricht davon aus Erfahrung und ermutigt seine Mönche: Mit dem Kontrahenten, mit dem also, mit dem man gestritten hat, noch vor Sonnenuntergang in den Frieden zurückzukehren (RB 4,73). Das muss nicht als Zeitmaß verstanden werden, aber doch als Absehbarkeit des Friedensschlusses.
V. Basis des Friedens: Gleichwertigkeit der Brüder
Benedikt geht davon aus, dass seine Mönche verschieden und unterschiedlich sind, dass sie jung sind, im besten Alter stehen und altgeworden sind (vgl. RB 2,31f.; 3,3; 37,1-4). Für das Zusammenleben gilt die Grundoption Benedikts der aequalitas, der grundsätzlichen Gleichheit aufgrund der Taufe und der monastischen Berufung (vgl. RB 2,16.22). Der Gedanke führt einen Paradigmenwechsel herbei, der ein Ansehen der Person unter den Brüdern nach Alter, Herkunft – aetas aut dignitas (vgl. RB 63,8) – oder sonstigen römischen Kriterien, wie etwa wegen des Reichtums, der Bildung, des Einflusses der Familie, der Dominanz oder der Bedeutung für das Kloster absolut ausschließt. Grundlage ist die Heilige Schrift mit ihrem Hinweis auf die Haltung Gottes (vgl. Röm 2,11; 1 Kor 11,22; Gal3,28; Eph 6,9; Kol 3,11.25; Jak 2,1-4; 1 Petr 1,17) und die Einheit und Gleichheit aller in Christus, die durch Taufe gegeben ist. Dieses Wissen um die Gleichheit ist in der Benediktusregel immer präsent, niemals jedoch als Gleichmacherei, sondern als Ethos der Gleichberechtigung und insbesondere als Gleichwertigkeit aller Brüder. Das schließt ein, dass die Einstellung der Brüder untereinander frei ist von sozialen Einschätzungen bzw. Verwerfungen, von Bevorzugung ebenso wie von Missachtung. Jeder hat die ihm zukommende Bedeutung, und es herrschen weder Unter- oder Überordnung noch die Gegensätze von jung oder alt, gesund oder krank, robust oder empfindlich.
Dazu kommt eine vorurteilsfreie Offenheit für alle Menschen, die zum Kloster kommen oder sich der Gemeinschaft anschließen wollen, die die Benediktusregel abhebt von zahlreichen Texten der monastischen Überlieferung. Die Wortwahl Benedikts macht deutlich, dass er sich an jeden richtet, „… wer auch immer du bist – quisquis“ (RB Prol. 3). Am Schluss seiner Regel wiederholt er nahezu mit denselben Worten, dass, „wer auch immer du bist“, zum himmlischen Vaterland gelangen wird (vgl. RB 73,8).
VI. Gerechtigkeit
Dieser alltägliche Friede hat für Benedikt als Voraussetzung die Gerechtigkeit: pax et iustitia. Eine grundsätzliche Voraussetzung, die Benedikt mit der praxisnahen Frage anspricht, formuliert er: „Ob alle das Notwendige in gleichem Maß erhalten sollen – Si omnes aequaliter debeant necessaria accipere“ (RB 34 T). Sie meint nicht: Für alle dasselbe, sondern seine Regel orientiert sich an dem, was jeder braucht, „wie es ein jeder nötig hat“ (RB 34,1; 55,20). Das kann nach Qualität, Maß und Inhalt sehr unterschiedlich sein. Erziehung zum Frieden heißt daher für ihn: Alle müssen verantwortlich mit dem umgehen, was sie brauchen, müssen wissen und abschätzen, was sie nicht brauchen und es doch den anderen zugestehen.
Benedikt geht davon aus, dass jemand weniger braucht, ihm deswegen aber nicht automatisch weniger zugeteilt wird. Der einzelne muss entscheiden, was für ihn notwendig ist, und er übt damit Selbstbescheidung und den bewussten Verzicht auf nicht Notwendiges, selbst wenn es zu bekommen ist. Braucht er mehr, überzieht er die Forderung nicht und bemisst für sich die notwendige Zuteilung. Damit ergibt sich eine quantitative und qualitative Unterschiedlichkeit und Ungleichheit, die im Dienst des Friedens steht. Ein hohes Maß an Reife der ganzen Gemeinschaft und der Wille zum Frieden sind dabei gefordert, da es schnell zum Vergleichen und damit zu Neid und Eifersucht kommen kann.
Alle müssen verantwortlich mit dem umgehen, was sie brauchen, müssen wissen und abschätzen, was sie nicht brauchen und es doch den anderen zugestehen.
Das eigentliche Anliegen ist die Erhaltung des Friedens in der Gemeinschaft, sowohl durch die Regelung selber wie auch durch die Frage des Umgangs mit ihr. Er darf nicht gefährdet werden durch zu rigorose oder zu nachlässige Handhabung, aber auch nicht durch Neid oder Ansprüche. „So werden alle miteinander in Frieden bleiben (RB 34,5). So werden alle Glieder der Gemeinschaft im Frieden sein“ (RB 34,5). Hier zeigt sich die Option für den Frieden nicht als große Geste, sondern in den Kleinigkeiten und Banalitäten des Alltags, also da, wo sich Krieg und Frieden abspielen.
VII. Gegenseitigkeit
Gegenseitigkeit ist ein Schlüsselwort für das Gelingen des gemeinsamen Lebens: se/sibi invicem. Es meint die Übernahme von Verantwortung füreinander und für das Ganze, eine Verantwortung, die jeder als seine je eigene zu übernehmen hat und die gemeinschaftsstiftend ist.
Benedikt vermeidet es, einzelnen Mönchen oder bestimmten Gruppen im Kloster einseitig etwas aufzuerlegen. So wahrt er die Zuträglichkeit, die Zumutbarkeit und Gerechtigkeit. Das ‚Tragen der Lasten‘ darf nicht exklusiv zugemutet werden, sondern ist eine Erwartung an alle, die ihren Impuls aus der Heiligen Schrift nimmt (vgl. Gal 6,2), wo die Wechselseitigkeit für die Gemeinde konstitutiv ist.
Benedikt sieht die Gegen- und Wechselseitigkeit alltagsbezogen und richtet sie z. B. auf den Küchen- und Tischdienst. „Die Brüder sollen sich gegenseitig (und wechselseitig) bedienen“ (RB 35,1). Die Wiederholung in V. 6: „Die übrigen Brüder sollen sich gegenseitig, wechselseitig in Liebe bedienen“ sichert und verstärkt die Wichtigkeit dieser Wechselseitigkeit. Die Belastung einzelner wird vermieden durch die selbstverständliche Bereitschaft aller, im Wechsel zur Verfügung zu stehen- mit den notwendigen Ausnahmen und Einschränkungen.
So wächst in einer Gemeinschaft die Atmosphäre der Einsatzbereitschaft und emotionalen Entlastung. Damit ist zugleich eine Zustimmung und Zuverlässigkeit angesprochen, wenn zumindest grundsätzlich gesichert ist, dass der andere in vergleichbaren Situationen so handelt, wie man es selbst tut. Diese Haltung appelliert an einen hohen ethischen Standard der Einzelnen wie auch des gesamten Systems.
VIII. Ehrfurcht und Würde
Mit der europäischen Wertediskussion verbindet sich stets die hohe Einschätzung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Auch hier sind wir zurückverwiesen auf den ethischen und religiösen Wurzelgrund der Benediktusregel. Die Basis des Friedens ist nicht der Wunsch nach reibungslosen Abläufen und effizientem Funktionieren, sondern die Ehrfurcht und Würde, die dem Einzelnen zukommt In der Benediktusregel nimmt das Wortfeld honor/honorare eine wichtige Stellung ein. Als einer ihrer Leitsätze muss zweifellos das Wort gelten: Alle Menschen ehren (RB 4, 8) – ein Vers, den Benedikt gegenüber seiner Vorlage ändert: Der ursprüngliche Text lautet: „Vater und Mutter ehren“ (RM 3,8). Alle Menschen, d.h. nicht die Menschheit, sondern jeden einzelnen Menschen zu ehren – das ist eine der Grundbedingungen des gemeinsamen Lebens. Das gilt für die Fremden, für die Kranken, für den Umgang der Generationen miteinander und der Brüder untereinander (RB 4,70-71; 53,2; 63,10.13.14.17; 72,4).
Am Ende fasst Benedikt abschließend mit Röm 12,10 zusammen: „Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung – honor zuvorkommen“ (RB 72,4). Dabei gilt nicht sein Ansehen in der Welt, sein Rang, seine soziale Stellung oder sein Reichtum. Diese Ehrfurcht ist unabhängig von natürlichen, gesellschaftlichen und politischen Privilegien, lässt sich durch sie nicht beeindrucken, sondern erwächst allein aus der Sicht des Glaubens: „… welches Alter oder welche Stellung jemand auch haben mag …“ (RB 63,8); oder in Bezug auf die Freien und Sklaven: „Er ziehe nicht den Freigeborenen einem vor, der als Sklave ins Kloster eintritt, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gibt“ (RB 2,18). So schreibt Benedikt für den Abt, ohne aber einen Sklavenbonus einzuführen.
IX. Verantwortung für den Frieden
Mit einer einzigartigen Formulierung, die programmatisch verstanden werden kann, stellt Benedikt die Sorge um den Frieden in das Zentrum der Gemeinschaft: alle Regelungen sollen unter der Option „zur Wahrung des Friedens und der Liebe – propter pacis caritatisque custodiam“ – getroffen werden (RB 65,11). Custodia als Wahrung, Bewahrung, Schutz und Sicherung heißt nichts anderes, als über den Frieden zu wachen und ihn zu gestalten und rückt in das Zentrum des Selbstverständnisses einer benediktinischen Gemeinschaft. Im Zusammenhang dieser Wendung geht es um die Frage, wer die Hausmacht hat. Das Gegeneinander von Abt und Prior spaltet durch schmeichlerische Parteinahme die ganze Gemeinschaft. Aufgerufen wird nicht zur Ruhe und Ordnung, sondern zum Frieden auf der Basis der Heiligen Schrift, wie es z. B. Gal 5,22 als Verwirklichung der Taufverpflichtung formuliert: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“
Leben in Gemeinschaft bedeutet daher, grundlegend dem Anforderungsprofil zuzustimmen, zu dem der Prolog der Benediktusregel mit einem Psalmvers aufruft: „Suche den Frieden und jage ihm nach“ (RB Pro!. 17; Ps 34, 15) und persönlich Verantwortung dafür zu übernehmen. Friede ist kein Besitz; er muss immer wieder neu ausbalanciert werden. Dieses Bemühen setzt beim einzelnen an. Es kann nicht delegiert werden, sondern nimmt jeden in der Gemeinschaft in die Verantwortung. Die Konsequenz ist ein Leben, das sich in dieser Friedenssuche bewährt, wie Benedikt es in der klaren Sprache des Psalms weiter beschreibt: „Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Wende dich ab vom Bösen und tu das Gute“ (RB Pro!. 17; Ps 34,14). Aktueller kann kaum ausgesagt werden, was unserer Welt und Gesellschaft nottut.
Ist dieser Friede gestört, liegt es in der Verantwortung des Einzelnen, ihn wieder herzustellen und sich diesem Prozess zu stellen. Benedikt gebraucht eine starke und singuläre Formulierung, die den Weg zurück in den Frieden, das Wachsen an Einsicht und Versöhnung sowie die Unverzüglichkeit der Bereitschaft zum Frieden ausdrückt. „Bei einem Streit mit jemandem noch vor Sonnenuntergang in den Frieden zurückkehren – cum discordante ante solis occasum in pacem redire“ (RB 4,73). In Anlehnung an Eph 4,26: „Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen“, will Benedikt keinen konkreten Zeitpunkt angeben oder eine bestimmte Tageszeit benennen, sondern den Weg der Rückkehr in den Frieden erkennbar und offen halten. Auch wenn er damit keine Uhrzeit bestimmt, meint er doch einen absehbaren und überschaubaren Zeitraum, in dem Aussprache und Verständigung realisiert wird.
Ausdrücklich formuliert Benedikt nicht: „Nach einem Streit“, sondern personalisiert die Situation: „cum discordante“ – mit dem Zerstrittenen, mit dem, mit dem man uneins ist, in den Frieden zurückkehren. Die persönliche Auseinandersetzung ist wichtig, das gegenseitige Zugehen aufeinander. Beide Kontrahenten stehen unter der Weisung, sich diesem Prozess zeitnah zu stellen. Benedikt ermutigt jeden der beiden zum Entgegenkommen, zum ersten Schritt und zur Klärung, um ein Zeichen der Friedensbereitschaft zu geben. Dieser erste Schritt gibt die Chance, dass der Friede wiederhergestellt wird. Es ist gut möglich, dass als Subtext die Weisung der Bergpredigt zu lesen ist: „Selig, die Frieden machen“ (Mt 5,9).
Die Warnung vor falschem Frieden (RB 4,25) macht klar, dass es nicht um Beschwichtigung und Frieden um des lieben Friedens willen geht. Heuchelei, vielleicht fehlender Mut zur Auseinandersetzung, mangelnde Konfliktfähigkeit, Harmoniebedürfnis, vorschnelle Versöhnung und Unaufrichtigkeit auch im Alltag der klösterlichen Gemeinschaft, können sich nicht auf biblische Wurzeln berufen; vielmehr warnt bereits Cyprian im Umgang mit den lapsi davor, Abgefallene ohne Klärung der Situation wieder aufzunehmen: „Durch die Vorspiegelung eines falschen Friedens wird der wahre Friede vereitelt“. Dies gilt für jedes Geschehen der Versöhnung, das ohne die Wahrheit nur zum nächsten Konflikt führen wird.
X. Regulative des Friedens
Die Benediktusregel schreibt keine Abhandlung über den Frieden, siedelt ihn vielmehr unspektakulär im Alltag an. So kennt sie eine Fülle von Regulativen, die den Frieden ermöglichen und sichern sollen. Nur einige wenige seien hier angeführt.
Ordo: Aus der Option des gemeinsamen Lebens ergibt sich ein strukturiertes Milieu. Das Miteinander der Mönche ist geregelt durch den ordo der Rangfolge. Die Struktur der Gemeinschaft zeigt, wie jeder seinen ganz eigenen, ihm zukommenden Platz hat, der Zugehörigkeit signalisiert. Es gibt nach dem Eintrittsalter erste und letzte Plätze (RB 63,8). Die Regelung durch das objektive Kriterium in der Reihenfolge des Eintritts ermöglicht die Wahrnehmung eines jeden einzelnen, seine Einmaligkeit und Wertigkeit, da jeder seinen Platz nicht nach Begünstigung und persönlicher Sympathie, nicht nach Herkunft und dem Ansehen der Person oder nach Fähigkeiten erhält. Die Selbstverständlichkeit des jeweils zukommenden Platzes im Gefüge der Gemeinschaft verhindert Konkurrenzdenken und Rivalität. Es entlastet von Zwang nach Profilierung und Anerkennung. Damit ist ein Streit oder der Kampf um den „Platz“, letztlich um Ansehen, Bedeutung und Einfluss abgewehrt. Entscheidend ist allein die Stunde der Berufung. Jeder Anspruch auf einen bestimmten Rang aufgrund des Alters – oder des Würdigkeitsprivilegs – aetatis aut dignitatis (RB 63,9) wird damit hinfällig, ebenso ein Vorrang wegen der klerikalen Würde. Dies ist grundsätzlich überwunden durch die Einheit und Gleichheit aller in Christus, die in der Taufe grundgelegt ist (vgl. Gal2,6).
Sanktionen und Strafen: Zu den Regulativen des Friedens gehört in der Benediktusregel eine Gruppe von Kapiteln, die als ‚Strafkapitel‘ bezeichnet werden (RB 23-30; 43-46). Die Reaktion auf die bereits genannten Grenzüberschreitungen, Verfehlungen und negativen Verhaltensweisen sind neben zahlreichen Einzelbemerkungen in zahlreichen anderen Kapiteln hier zusammengefasst. Diese Kapitel stellen einen differenzierten und abgestuften Umgang mit Fehlverhalten dar und haben eine wichtige Funktion bei der Wahrung und Wiederherstellung des Friedens (vgl. Mt 18;15ff).
Da Verfehlungen und Schuld nicht zu leugnen sind, braucht es einen geordneten Umgang mit diesen Erfahrungen. Liegt kein Instrumentarium vor, um solche Vorkommnisse zu ordnen, wirkt sich dies negativ auf das gemeinsame Leben aus. Eine solche Ordnung verhindert die individuelle oder kollektive Bestrafung durch beliebige Maßnahmen einzelner oder der ganzen Gemeinschaft. Sie sind auch Schutz des schuldigen Bruders vor übertrieben harter Strafe, vor Willkür und Machtmissbrauch.
Die Strafkapitel bieten einen Klärungsprozess: sie intendieren eine differenzierte und ebenso problem- wie lösungsorientierte Bearbeitung von Konflikten. Dabei sieht Benedikt, dass es möglicherweise nicht zu einer Lösung kommt, vielmehr, dass Misslingen des Vertrauens, negative Langzeitfolgen, schwelende Missverständnisse, Provokationen und Konflikte zum Dauerzustand werden, die er mit einer klaren Trennung beantwortet.
Das Vaterunser als Friedensgebet: Die liturgische Hervorhebung des Vaterunsers durch Benedikt (RB 13,12-13) bezieht sich vor allem auf die Weisung zu Vergebung und Versöhnung, da die Dornen der Ärgernisse – propter scandalorum spinas, wie er es in einem Bildwort ausdrückt –, immer wieder neu verletzen. In der Gemeinschaft muss diese Bitte daher täglich verkündet, gehört und erfüllt werden. Daher soll der Abt „das Gebet des Herrn so“ sprechen, „dass alle es hören können . … Wenn die Brüder beten und versprechen: ‚Vergib uns, wie auch wir vergeben‘, sind sie durch dieses Wort gebunden und reinigen sich von solchen Fehlern“ (RB 13,13; Mt 6,12).
Der Abt trägt diese Bitte und Weisung jeden Tag am Morgen und am Abend, also an den Eckpunkten des Tages vor. Als Heilmittel für die Verletzungen und Ärgernisse im Alltag soll das vom Abt gesprochene Gebet des Herrn bei den Brüdern wirksam werden. Ausdrücklich sagt Benedikt: „omnibus audientibus – während alle hören“ (RB 13,12). Der Obere trägt zwar das Gebet laut vor, doch die Brüder sprechen es selber im Herzen (dicunt), besonders die Bitte: „Vergib uns, wie auch wir vergeben“. Hören und im Herzen (mit) sprechen ist hier zugleich Selbstverpflichtung: „dann sind sie durch dieses Wort gebunden und reinigen sich von solchen Fehlern“ (RB 13,13). Das Beten des Vaterunsers wird bei Benedikt zur Selbstverpflichtung des Mönchs und zu einer ganz persönlichen Angelegenheit. Ausdrücklich schreibt er: „omnibus audientibus – dass alle es hören“. In diesem Hören verpflichten sich die Brüder – hier mit dem ungewöhnlichen Wort conventi bezeichnet – jeden Tag zweimal zu Vergebung und Versöhnung (vgl. RB 4,73; 71,6-8). Mit sponsio gebraucht Benedikt ein hochkarätiges Wort, das in der Bedeutung „feierlich und öffentlich geloben“ den hohen Verpflichtungscharakter unterstreicht. Immer wieder soll sich der Mönch vergegenwärtigen, dass er die Selbstverpflichtung in Freiheit und Freiwilligkeit übernommen hat.
Die Bitte des Vaterunsers bewirkt, dass das Wort der Schrift im Herzen der Brüder und im Leben der Gemeinschaft Wirklichkeit wird. Durch das Hören und sich Einlassen auf das Herrengebet wird immer wieder ein Prozess angestoßen, der langfristig Veränderung und Heilung bewirkt und dauerhaft Frieden stiftet.
Die Regel des Benedikt – Turino di Vanni stellt sich die Übergabe durch den Ordensgründer in diesem Kunstwerk, das in Florenz in der Galleria dell’Accademia hängt, auf diese Weise vor – gibt Instruktionen für das Zusammenleben von Mönchsgemeinschaften
Das Befolgen einiger der Regeln wäre aber auch für das Zusammenleben von Gesellschaften und Staaten hilfreich.